Transplantationsgesetz: Eine Frage der Ethik?
Bei den eidgenössischen Abstimmungen am 15. Mai geht es unter anderem um die Vorlage zum neuen Transplantationsgesetz. Die Bodensee Nachrichten haben dazu Felix Kuster, FDP Präsident der Region Rorschach und Kantonsrat Karl Güntzel, SVP, befragt.
Schweiz In den vergangenen fünf Jahren haben in der Schweiz im Schnitt jährlich rund 450 Menschen ein oder mehrere Organe einer verstorbenen Person erhalten. Der Bedarf an Organen ist allerdings deutlich grösser. Eine Transplantation ist heute nur möglich, wenn die verstorbene Person der Spende zu Lebzeiten zugestimmt hat (Zustimmungslösung). Bundesrat und Parlament möchten die Chance von Patientinnen und Patienten erhöhen, ein Organ zu erhalten. Sie wollen darum die Organspende neu regeln: Wer seine Organe nicht spenden möchte, muss dies zu Lebzeiten festhalten (Widerspruchslösung).
Angehörige können ablehnen
Hat eine Person nicht widersprochen, wird davon ausgegangen, dass sie ihre Organe spenden möchte. Die Angehörigen können eine Organspende aber ablehnen, wenn sie wissen oder vermuten, dass die betroffene Person sich dagegen entschieden hätte. Sind keine Angehörigen erreichbar, dürfen keine Organe entnommen werden. Das geänderte Transplantationsgesetz ist ein Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten».
Referendumskomitee
Mit dem Slogan «Wer mein Herz will, muss mich fragen» ruft das Referendumskomitee zu einem Nein gegen die Transplantationsvorlage auf. Laut dem Komitee gibt es mit dem neuen Gesetz immer Personen, die nicht wissen, dass sie sich gegen eine Organspende aussprechen müssten. So würde hingenommen, dass Menschen gegen ihren Willen Organe entnommen werden würden.
«Recht auf Selbstbestimmung wird verletzt»
Ausserdem verletzte das vorgeschlagene Transplantationsgesetz das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit. Bei der Volksabstimmung gehe es gemäss Referendumskomitee nicht um eine Diskussion Pro und Contra Organspende, sondern um die Diskussion der Regelung der Organgewinnung. Es sei unbestritten, dass eine Erhöhung der Spenderzahl erwünscht sei. Die Widerspruchsregelung aber sei nach Meinung des Komitees ein für sie inakzeptables Mittel, weil sie medizin-ethische und verfassungsrechtliche Grundsätze verletzen würde.
Regelung in den Nachbarländern
Ein Blick in die Nachbarländer zeigt, dass in Deutschland seit 1997 bei Transplantationen die Zustimmungslösung gilt. Im österreichischen Recht hingegen ist bereits die sogenannte Widerspruchslösung zur Organspende verankert, das heisst, dass eine Organentnahme bei einer/einem potenziellen Spenderin/ Spender nach Feststellung des Todes zulässig ist, sofern diese/dieser nicht schon zu Lebzeiten einer solchen widersprochen hat.
Pro: Felix Kuster, Parteipräsident FDP Rorschach
Herr Kuster, wieso stimmen Sie für eine Änderung des Transplantationsgesetzes?
Bei der Organspende in der Schweiz braucht es eine grundlegende Veränderung. Durch die Organspende können zurzeit jährlich 250 Menschenleben gerettet werden. Gemäss den Zahlen von Swisstransplant warten derzeit über 1400 Personen auf eine Organspende. 2020 starben 70 Menschen, die auf der Warteliste für ein neues Organ waren. Mit der Revision des Gesetzes soll die Zahl der wartenden Patienten reduziert werden. Studien im Ausland beweisen, dass die Organspende mit einer Widerspruchslösung zu einer Erhöhung der Organspender führt und somit Leben rettet. Denn rund 30% der Patientinnen/ Patienten auf der Warteliste für ein neues Organ sind unter 50 Jahre alt.
Sollte nicht jeder Mensch selbst entscheiden, ob er Organe spenden will oder nicht?
Die Revision des Transplantationsgesetzes und die erweiterte Widerspruchslösung dienen einer besseren Aufklärung und einer möglichen Entlastung von Angehörigen. Jede Person hat das Recht über ihre Organe zu entscheiden. Das Gespräch mit den Angehörigen findet immer statt. Können die Angehörigen nicht rechtzeitig kontaktiert werden oder sind keine Angehörigen bekannt, ist die Organentnahme nicht möglich. Auch wenn sich die Angehörigen uneinig sind, findet keine Organentnahme statt. Die Gesetzesrevision übt daher keinen Zwang auf den Organspender und die Angehörigen aus. Es gibt keinen Automatismus. Da die Organspende nach wie vor freiwillig ist – sowohl die verstorbene Person wie auch die Angehörigen können ihr Nein geltend machen – kann man weiterhin von einer Spende/einem Geschenk reden. Mit der neuen Regelung ist man sicherer, dass niemand zur Organspenderin/ zum Organspender wird, die/der das nicht gewollt hätte: Denn alle sind aufgefordert und haben die Möglichkeit, ihr Nein zu kommunizieren, wenn sie nicht Organspender/ in werden wollen. Zudem findet immer ein Angehörigengespräch statt, bei dem die Angehörigen ein Veto zur Organspende einlegen können. Es gibt also ein doppeltes Vetorecht.
Verletzt die Änderung des Transplantationsgesetzes nicht das Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit?
Die körperliche Unversehrtheit wird durch die Widerspruchslösung nicht berührt. Wenn jemand seine Organe aus ethischen oder religiösen oder anderen persönlichen Gründen nicht spenden möchte, ist dies möglich. Es gibt keine Pflicht zu spenden. Jede und jeder kann ein Nein kommunizieren oder den Entscheid delegieren. Die neue Regelung ermöglicht, dass diejenigen, die spenden wollen, eher spenden können und diejenigen, die nicht spenden wollen, eher ihr Nein dokumentieren. Das Bundesgericht hat klargestellt, dass die Widerspruchslösung auf einem ausreichenden öffentlichen Interesse beruht und mit dem Prinzip der Verhältnismässigkeit vereinbar ist.
Die Angehörigen eines Verstorbenen erhalten nun noch mehr Verantwortung, denn es heisst wörtlich in der Dokumentation des Bundes: «Die Angehörigen können eine Organspende aber ablehnen, wenn sie wissen oder vermuten, dass die betroffene Person sich dagegen entschieden hätte.» Ist dies nicht der falsche Ansatz?
Mehrere unabhängige Umfragen belegen, dass etwa 80% der Bevölkerung die Organspende befürworten. Die Gründe für die tiefe Quote der Organspendenden liegen darin, dass über 50% der Bevölkerung ihren Willen zur Organspende weder schriftlich festhält noch gegenüber den Angehörigen kommuniziert, dass sie ihre Organe nach ihrem Ableben zur Verfügung stellen. Im Ernstfall lehnen etwa 60% der Angehörigen die Organspende im Schockmoment ab. Durch die Revision des Transplantationsgesetzes wird erreicht, dass sich die Bevölkerung mit dem Thema der Organspende auseinandersetzt und Personen, die keine Organe spenden möchten, ihren Entscheid schriftlich festhalten. Im Trauermoment kann davon ausgegangen werden, dass die verstorbene Person keine Einwände gegen die Organspende hatte und dieses Wissen entlastet auch die Angehörigen bei ihrer Entscheidung im Moment der Trauer.
Wie kann garantiert werden, dass keinem Verstorbenen gegen seinen Willen ein Organ entnommen wird?
Ob eine Patientin oder ein Patient sich für oder gegen eine Organspende entschieden hat, ändert nichts an der Behandlung! Leben retten hat für jedes Ärzteteam im Spital oberste Priorität. Es wird alles unternommen, um Patient/innen zu retten, auch wenn diese möglicherweise Spenderinnen oder Spender werden könnten. Das Thema Organspende wird erst angesprochen, wenn die Prognose aussichtslos ist und die Therapie abgebrochen werden muss. Wer der Sprache nicht mächtig ist (z. B. Fremdsprache), ist gut geschützt: Es findet in jedem Fall ein Angehörigengespräch statt, oft mit Dolmetscher-/in. Ist kein Angehörigengespräch möglich, weil z. B. keine Angehörigen da sind oder Sprachbarrieren bestehen, ist eine Organspende ausgeschlossen. Die erweiterte Widerspruchslösung kommt nicht zuletzt auch gerade diesen Personengruppen zugute, denen es nicht möglich ist, zu Lebzeiten in informierter Weise einer Entnahme zu widersprechen. Zudem haben diese Menschen auch Zugang zur Warteliste und sind, wenn sie Wohnsitz in der Schweiz haben (z. B. Asylsuchende) gleichgestellt.
Kontra: Karl Güntzel, SVP, Kantonsrat
Herr Güntzel, Wieso stimmen Sie gegen eine Änderung des Transplantationsgesetzes?
Weil die Widerspruchslösung Weil die Widerspruchslösung nicht die richtige Lösung für diese sehr persönliche und weitreichende Frage ist. Stillschweigen genügt nicht. Jeder Mensch muss aktiv entscheiden, ob er Spender sein will. Dies auch, weil Stillschweigen auch Unterlassen, Vergessen oder sogar Nichtwissen sein kann! Denn es ist bekannt, dass auch nicht alle, die ein Testament oder eine Patientenverfügung machen wollen, dies auch tun!
Die Änderung des Transplantationsgesetzes könnte Leben retten, denn die Nachfrage nach Spenderorganen ist grösser als das Angebot. Wie kann man sich gegen das Retten von Leben aussprechen?
Die Ablehnung dieser Vorlage bedeutet ja nicht, dass man selber nicht bereit ist, Organe zu spenden.
Durch die Widerspruchslösung können Personen, die ihre Organe nicht spenden wollen, ihre Entscheidung einmalig registrieren lassen. Ist dies nicht eine viel bessere Absicherung?
Nein. Dies heisst aber nicht, dass es nicht ein Register geben kann, in das man sich freiwillig eintragen kann, ob man Spender sein will oder nicht. Selbstverständlich müsste dies mit einem Widerrufsrecht für beide Möglichkeiten verbunden sein.
Durch eine Änderung des Transplantationsgesetzes würden auch Angehörige entlastet werden, da ihnen der Entscheid bei einer «Nicht-Registrierung» abgenommen wird. Wäre dies nicht wünschenswert in einer Trauersituation?
Das trifft nur eingeschränkt zu, können doch die Angehörigen immer noch die Organentnahme verweigern. Dies muss aber immer sofort erfolgen, also auch in der angespannten und belastenden Situation mit einem Familienangehörigen zwischen Leben und Tod.
Die Organspende ist ein Akt der Solidarität. Durch eine Änderung des Transplantationsgesetzes würde diese Solidarität gefördert werden. Was halten Sie einer solchen Meinung zu entgegen?
Die zweimalige Verwendung des Begriffs «Solidarität» ist für mich unredlich, weil dadurch moralischer Druck erzeugt wird. Dabei geht es bei dieser Frage gar nicht um die Widerspruchslösung. Vielmehr ist nach Ansicht des Fragestellers von vornherein unsolidarisch, wer nicht ja sagt zu Organspende! Für mich gibt es keinen Anspruch darauf. Der menschliche Körper ist nicht ein Selbstbedienungsladen oder ein Ersatzteillager für andere Menschen. Dazu kommt, dass der Todeszeitpunkt alles andere als klar ist, gibt es doch verschiedene Todeszeitpunkte. Der Hirntod war in den 60er-Jahren «eingeführt » worden, damit unversehrte Organe transplantiert werden können.
Von Astrid Nakhostin