Wenn es schwierig wird in der Familie
Bei der Festlegung des Beitrags der Unterhaltspflichtigen bei der Fremdplatzierung eines minderjährigen Kindes gibt es offenbar eine Gesetzeslücke, die die Tür für eine übermässige Festlegung des Betrags öffnet. Der vorliegende Fall hat sich in Rorschach zugetragen und basiert auf wahren Gegebenheiten. Die Namen wurden abgeändert.
Kanton Moritz fehlt in der Schule. Seine Eltern vermuten, dass er heimlich kifft. Zu allem Überfluss fängt er auch noch an, mit dem Handy Investitionen zu tätigen, die ihn und die Familie in Schulden stürzen könnten. Als sie Moritz zur Rede stellen, eskaliert die Situation. Es kommt soweit, dass der Minderjährige fremdplatziert werden muss. Doch wer trägt die Kosten einer Fremdplatzierung?
Wegweisender Gerichtsentscheid
Die Fremdplatzierung eines Kindes durch die KESB ist für keinen der Beteiligten ein Grund zur Freude. Ob gegen den Willen der Erziehungsberechtigten oder im gegenseitigen Einvernehmen, Kosten dafür fallen in jedem Fall an und es stellt sich zwangsläufig die Frage, wer diese Kosten zu übernehmen hat. Besonders brisant wird die Angelegenheit, wenn die Unterhaltspflichtigen die Beiträge nicht begleichen können, denn dann werden diese dem Sozialamt der jeweiligen Gemeinde in Rechnung gestellt. Grund genug für die Sozialämter, genau hinzuschauen. Allerdings ist hierbei problematisch, dass der st.gallische Gesetzgeber scheinbar bewusst keine explizite gesetzliche Regelung erlassen hat, um von den Unterhaltspflichtigen weitere Beiträge zu verlangen. Daher können keine solchen – ausser auf freiwilliger Basis – erhoben werden. Bei einem wegweisenden Entscheid für den Kanton St.Gallen kam das Kreisgericht See-Gaster am 30. April 2021 zum Schluss, dass für über den Betrag von 25 Franken pro Tag hinausgehende Forderungen von der betroffenen Familie keine Rückerstattungspflicht seitens der Unterhaltspflichtigen besteht. Was bedeutet dies für die Familie von Moritz und andere Familien, bei denen ein minderjähriges Kind fremdplatziert werden muss?
Freiwillige Vereinbarung
Die monatlichen Kosten für die Fremdplatzierung eines minderjährigen Kindes belaufen sich auf knapp 10 000 Franken. Kaum jemand kann für eine solche Summe aufkommen. Hinzu kommt, dass es hier oftmals Familien betrifft, welche sowieso schon schwächer gestellt sind. Die Höhe des Beitrages der Unterhaltspflichtigen (BU) entspricht den mittleren Tagesaufwendungen für Kost und Logis für eine Person in einfachen Verhältnissen. Empfohlen ist ein Beitrag von 25 Franken pro Tag. Den Sozialämtern der Gemeinden bleibt es freigestellt, ob sie an die betroffenen Familien, wenn diese sich als finanzstark erweisen, eine Forderung nach einem höheren Beitrag stellen und mit diesen eine freiwillige Vereinbarung abschliessen.
Schweizweit trotz IVSE grosse Unterschiede bei Höhe der BU
In seinem Newsletter vom 27. August 2019 kritisierte der Preisüberwacher die Praxis der Kantone bei der Festsetzung der BU. Die Spannweite der BU reicht von 10 bis zu 137.50 Franken pro Tag. Der Preisüberwacher beurteilte in diesem Newsletter die BU zahlreicher Kantone als zu hoch und forderte gar, den Betrag auf 16 Franken pro Tag zu senken. Allerdings gibt es dafür keine gesetzliche Regelung, sondern lediglich eine Empfehlung. Im Fall der Familie von Moritz forderte das Sozialamt eine Nachzahlung von über 27 000 Franken von den Eltern und 5400 Franken für jeden weiteren Monat, während dem das Kind fremdplatziert ist. Eine horrende Summe. Verzweifelt nimmt die Familie sich einen Anwalt und in der Tat erweist sich die Berechnung zweimal als falsch. Schliesslich kommt es zu einem Vergleich zwischen der Gemeinde und der Familie, um das Risiko eines kosten- und zeitintensiven Verfahren zu verhindern. Hätte die Familie von Moritz von dem Entscheid des Kreisgerichts See-Gaster gewusst, so hätte sie wohl auf ihrem Recht beharrt, nur 25 Franken pro Tag BU zu bezahlen.
Unverhältnismässige Höhe der Beträge für Unterhaltspflichtige
Die Gesetzeslücke bei der Festlegung des BU bei einer Fremdplatzierung ermöglicht eine Festlegung der Beträge der Unterhaltspflichtigen in übermässiger Höhe. Betroffene Familien sehen sich, je nach Berechnung, mit der Forderung des Sozialamtes der Gemeinde konfrontiert, freiwillig mehr Beiträge zu bezahlen, als dies überkantonal als angemessen klassifiziert wird. Die Familie von Moritz unterzeichnete die freiwillige Vereinbarung um ein Gerichtsverfahren zu vermeiden, aus Angst vor den entstehenden Kosten. Mit der freiwilligen Vereinbarung verpflichtete sie sich, knapp 30 Franken täglich für Moritz' Fremdplatzierung zu bezahlen – der Höchstbeitrag, der laut IVSE gefordert werden darf. Im vorliegenden Fall ist besonders gravierend, dass die Berechnung des BU sich zweimal als falsch erwies, was der Familie von Moritz zudem Verfahrenskosten im vierstelligen Bereich bescherte. Der Gesetzesgeber täte gut daran, diese Gesetzeslücke zu schliessen, um künftig eine einheitliche Regelung zu haben und solche Verfahren vermeiden zu können.
Was ist die IVSE?
Die IVSE (Interkantonale Vereinbarung für soziale Einrichtungen) wurde am 13. Dezember 2002 verabschiedet, trat am 1. Januar 2006 in Kraft und wurde bisher zweimal revidiert. Alle 26 Kantone der Schweiz sowie das Fürstentum Liechtenstein sind der IVSE beigetreten. Die IVSE ist das Nachfolgemodell der Interkantonalen Heimvereinbarung (IHV) vom 1. Januar 1987. Die IVSE ist ein zentrales Instrument der interkantonalen Zusammenarbeit im Bereich der sozialen Einrichtungen. In Artikel 22 der IVSE werden die Beiträge der Unterhaltspflichtigen (BU) festgelegt. Laut diesem Artikel entspricht die Höhe der BU den mittleren Tagesaufwendungen für Kost und Logis für eine Person in einfachen Verhältnissen. Die Finanzierung von IVSE-Platzierungen im Kanton St.Gallen stützt sich auf das Sozialhilfegesetz (SHG) vom 27. September 1998 und die Verordnung zur Interkantonalen Vereinbarung für soziale Einrichtungen IVSE (VO-IVSE) vom 17. Januar 1989. In Artikel 18 VO-IVSE wird der Beitrag von Unterhaltspflichtigen (BU) auf 25 Franken je Tag festgelegt.
Von Claudia Eugster.