Der Chef
Christian Ruckstuhl von der Schlösslispange in Horn
Aus «Erinnerungen an eine vergangene Stadt» von Hans Köchli.
Als kleiner Bub freute ich mich jedes Jahr auf die beiden Rorschacher Fasnachtszeitungen, die im Zeitungsformat am Kiosk meines Schulweges ausgehängt waren. Die eine nannte sich «Giftsprützä», die andere «Ventil auf!» Beide trugen ihr Signet, zeichnerisch gestaltet, oben auf der Titelseite. Im Inhalt immer scharf pointiert, sogar giftig – wenn es denn sein musste – gehörten sie in der Fasnachtszeit auf jeden Familien- und Wirtshaustisch.
1955 wurde im östlichen Seepark auf Antrag örtlicher Kunstfreunde eine Skulptur mit Namen «Die Schwebende» aufgestellt. Es handelte sich offensichtlich um das Kunstwerk eines begnadeten Bildhauers, nämlich um eine Plastik des berühmten Künstlers «Hermann Haller». Das reizende Figürchen stellt eine junge, unbekleidete Frau vor, die in unschuldig, tänzerischer Pose dem nahen See entgegen zu schweben scheint. Schon im Voraus verbreitete sich blanke Entrüstung über die schamlose Nudität inmitten eines öffentlichen Parks. Die Fasnachtzeitung «Giftsprützä» verspottete das moralinsauere Sittlichkeitsgehabe ultrakonservativer Kleinstädter, allen voran die allein selig machende, katholische «Rorschacher Zeitung» und «fötzelte» in launischen Versen über die «Schwebende», die mit der Schlusspointe endigten:
«Es heisst, si sei'gi geicht –
si heg no nie i d'hose gs .. !»
Einige klarsichtige Männer setzten den Rorschachern die Köpfe zurecht – und das Kunstwerk durfte aufgestellt werden.
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