Susann Metzger
kandidiert für Parteiunabhängige AR um den Sitz im Regierungsrat AR
Mario Andreotti, Dozent für Neuere deutsche Literatur, Germanist, Historiker und Buchautor. (Bildquelle: z.V.g.)
An die Stelle einer bedachten Weiterentwicklung der schulischen Pädagogik ist vonseiten der Bildungspolitiker, durch die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen verunsichert, in den letzten Jahren eine Reformwut getreten, die aus unseren Schulen Dauerbaustellen macht. Verwirrend ist dabei die neue Terminologie: von Interdisziplinarität und Transdisziplinarität, von Transversalem Unterricht und Transversalen Kompetenzen, von transversalem Einbezug der Digitalität, von Kompetenzorientierung, von überfachlichen Kompetenzen, von curricularer Primär- und Sekundärstruktur ist die Rede. Lehrerinnen und Lehrer sehen sich einmal mehr von einem «Fachchinesisch» überfordert und vor lauter Kompetenzrahmenmodellen und transversalen Bereichen versagt die Verständigung zwischen Wissenschaft und Schule.
Erweiterung des Wahlangebotes und neue Fächer
Doch wohin zielt diese ganze «Reformitis» mit ihrer verwirrenden Terminologie? Es sind zunächst zwei Stossrichtungen zu unterscheiden: Zum einen ist beabsichtigt, die Lektionenzahl in mehreren Grundlagenfächern, wie zum Beispiel in Deutsch, in der zweiten Landessprache, in Englisch und in der Mathematik, zu reduzieren, um einerseits die Schülerbelastung zu verringern und andererseits Platz für die Ausweitung des Wahlangebotes zu schaffen. Dass damit die allgemeine Studierfähigkeit in Frage gestellt wird, machen die meisten Fachgruppen, die sich gegen einen Lektionenabbau im eigenen Fach wenden, zu Recht geltend. Und zum andern sind im neuen Lehrplan neue Pflichtfächer vorgesehen:
Es sind dies «Medien und Informatik», «Wirtschaft und Recht», «Grundlagen für reflektiertes Denken», ein «interdisziplinäres Vertiefungsfach» und schliesslich noch ein Fach, das sich «Bildung nachhaltige Entwicklung», kurz BNE nennt, wo es, etwa angesichts des Klimawandels, um das Einüben von Verhaltensänderungen geht – ein Fach, das der Gefahr der politischen Indoktrinierung, wie sie der Beutelsbacher Konsens verbietet, wohl nicht ganz entgehen wird.
Am meisten zu diskutieren gab das neue Fach «Grundlagen für reflektiertes Denken», das ursprünglich Englisch als «critical thinking» international, weltoffen tönen sollte. In diesem Unterrichtsgefäss soll ein Konzept zur Förderung der Kompetenzen in kritischem Denken erarbeitet werden. Die Gymnasiallehrerinnen und -lehrer haben dieses neue Fach in der Anhörung mehrheitlich abgelehnt. Und dies zu Recht. Denn die Hinführung der Schülerinnen und Schüler zu kritischem Denken muss Aufgabe eines jeden Faches sein, ob es sich nun um Mathematik, um deutsche Literatur oder um Bildnerisches Gestalten handelt. Dazu braucht es kein eigenes Fach, und das erst noch auf Kosten bestehender Fächer, die dafür Lektionen hergeben müssen. Trotzdem will der st.gallische Bildungsrat an diesem neuen Unterrichtsgefäss, dessen Inhalte nur unscharf definiert sind, festhalten.
Neue Unterrichtsformen ermöglichen
Es kommt noch eine dritte Stossrichtung dazu, nämlich die Schaffung flexibler Lernformate mit dem Zweck, den starren Lektionentakt aufzubrechen und so vielfältige neue Unterrichtsformen – ein Kernelement des Reformprojekts «Gymnasium der Zukunft» – zuzulassen. Bei den Lehrkräften stiessen diese Lernformate auf erheblichen Widerstand. Hauptkritikpunkte waren, dass der vorgeschlagene Umfang dafür zu hoch angesetzt sei, dass es vor allem zu vermeiden gelte, dass ein Fach nur noch über eine Lektion im regulären Unterricht verfüge, während die übrigen Lektionen als flexible Lernformate eingesetzt würden. Dazu wurden, vor allem vonseiten der Stundenplaner Zweifel an der praktischen Umsetzbarkeit geäussert.
Durch die Einführung neuer Fächer im neuen Rahmenlehrplan kommt es mit Blick auf die Stundentafel notgedrungen zu einem Verteilkampf zwischen den einzelnen Fächern. Die Förderung der MINT-Fächer, also der Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, führt überdies zu einer Verlagerung der Prioritäten in der Schule, bei der unter anderem Fächer wie Geschichte und Politische Bildung unterliegen müssen. Und das, obwohl die Politische Bildung zu stärken ursprünglich ein Hauptanliegen der Maturareform war. So ist einmal mehr zu befürchten, dass die geisteswissenschaftlichen Fächer zu den Verlierern der Maturareform werden.
Von Prof. Dr. Mario Andreotti.
Über den Autor
Prof. Dr. Mario Andreotti, ehemaliger Gymnasiallehrer und heute Dozent für Neuere deutsche Literatur, ist ein profunder Kenner der schweizerischen Bildungslandschaft. 2019 veröffentlichte er im Verlag FormatOst dazu das vielbeachtete Buch «Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache».
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