«Krise wird zunehmend zum Belastungsfaktor»
30.11.2020 00:00
Interview mit Brunhilde Edelmann, eidgen. anerkannte Psychotherapeutin aus Heiden
Wie wirkt sich die Corona-Krise derzeit auf die Psyche der Menschen aus? Die «Bodensee Nachrichten» unterhielten sich dazu mit Brunhilde Edelmann, eidg. anerkannte Psychotherapeutin und Psychologin FSP, aus Heiden.
Wie empfinden Sie, erleben Sie, als Fachperson die aktuelle Lage und die Auswirkungen auf die Psyche im Umfeld oder bei Patienten?
Brunhilde Edelmann: Als Fachperson erlebe ich die aktuelle, bzw. schon seit März dieses Jahres andauernde Lage, als sehr vielseitig, überraschend, erschreckend, kreativ, uvm., dies im Umfeld wie auch bei PatientInnen. Einzelne PatientInnen scheinen gegenwärtig sogar von den Massnahmen des Bundes oder Kantons zu profitieren. Sie fühlen sich sicherer und haben dadurch einen geringeren Leidensdruck. Eine andere Gruppe der PatientInnen wiederum zeigt sich stark leidend. Teilweise fehlen diesen Menschen klare Orientierungspunkte. Es gäbe gemäss ihnen zu viele Fragen mit unterschiedlichen Antworten, zum Beispiel wo gemacht werden darf. Gefühle von Angst, Trauer, Wut scheinen deren Alltag zu dominieren. Meist höre ich aus dieser Gruppe auch den Wunsch nach mehr Kontrolle und strengeren Massnahmen. Die Zuordnung zu Gruppen könnte noch breit fortgesetzt werden, etwas diffus, schwer abgrenzbar, basierend auf verschiedenen Wirkmechanismen psychologischer Gruppenprozesse, teilweise auch in Kombination mit einer Identitätssuche.
Verstärkt die Tatsache, dass die Krise nun in den Herbst und Winter geht, die Probleme?
Die Dauer der Krise wird zunehmend zu einem Belastungsfaktor, Herbst und Winter dürften einen moderaten Einfluss haben. Im Frühjahr hat wohl kaum jemand mit dieser Pandemie in unserer Kultur gerechnet, geschweige denn mit dieser Dauer und den Auswirkungen. Wir wurden überrascht und unser Kulturkreis hatte bisher ? im Gegensatz zur jährlichen Grippesaison keine erworbenen oder kaum verfügbaren Verhaltensstrategien im Umgang mit einer Pandemie.
Machen allgemein psychische Probleme in dieser Jahreszeit den Menschen mehr zu schaffen als im Frühjahr oder ist das ein falsches Vorurteil?
Ich nehme an mit ?allgemein psychischen Problemen in dieser Jahreszeit? ist die «Winterdepression» gemeint. Diese wird in Fachkreisen unterschiedlich diskutiert und es zeigen sich landestypische Eigenheiten. Meine Erfahrung mit meiner Klientel unterstützt die These, dass die kurzen Tage, langen Nächte und auch der Nebel oder weitere widrige Witterungen, bzw. vor allem die Angst davor, auf die Stimmung drücken. Im Frühling, wenn diese PatientInnen zurückblicken, erzählen sie, dass es gar nicht so schlimm gewesen sei. Doch diese Erfahrung scheint sie im nächsten Herbst nicht vor der Angst einer erneuten «Winterdepression» zu schützen.
Welche Strategien helfen, um mental auf der Höhe zu bleiben und nicht in ein sogenanntes «Loch» zu fallen?
Das Individuum benötigt individuelle Strategien, daher kann hier kein Patentrezept folgen. Primär versuche ich, die Motivation für regelmässige körperliche Aktivitäten zu wecken, angepasst an die individuelle körperliche Leistungsfähigkeit. Zusätzlich beziehe ich mich im therapeutischen Arbeiten auf verschiedene Studien, welche hilfreiche mentale Interventionen untersuchten. Dazu gehört u.a. eine Studie, die auf den ersten Blick für PatientInnen, wohl auch bei mancher Leserin, manchem Leser, bagatellisierend wirkt. Die Aufgabe der Experimentalgruppe war es, dreimal sechs Minuten an fixen Zeiten die Mundwinkel nach oben zu ziehen und oben zu lassen, eventuell mit den Fingern fixieren, damit es besser gelingt. Es ist egal was Sie dabei denken! Der Effekt der Studie war gross und das Wohlbefinden steigerte sich in den paar Wochen des Trainings. Vielleicht haben Sie Lust es selber auszuprobieren, was es mit ihnen macht, wenn sie bei einem Gedanken die Mundwinkel nach oben oder nach unten ziehen.Bisher haben mir alle Personen berichtet, dass es sich anders anfühlt. Was passiert bei dieser Intervention in unserem Gehirn? Physiologische Gehirnprozesse laufen stets in der Gegenwart ab, die Angst ist in die Zukunft gerichtet, die Depression häufig in die Vergangenheit. Jedoch übersetzt das Gehirn: «Mundwinkel oben heisst, ich bin fröhlich»und dadurch tritt ein anderes emotionales Erleben ein, zumindestbei den meisten Menschen. Hier könnten noch weitere Studien genannt werden. Das gemeinsame Ziel dieser mir bekannten Studien war es stets, den physiologischen Gehirnzustand zu verändern, dies in Kombination mit Körperprozessen (Haltung, Tanz, Mundwinkel, etc.) und dadurch Einfluss auf das emotionale Erleben zu generieren. Selbstverständlich funktioniert dies auch in einer nicht erwünschten Richtung. Weitere hilfreiche Strategien, nehme ich an, dürften wohl bekannt sein und wurden schon viel in der aktuellen Krise genannt, u.a. Fotoalbum anschauen, Freunde anrufen, sich erinnern, was Freude gemacht hat oder das in einem Tagebuch nachlesen, Musik auflegen und sich dazu bewegen, Yoga, singen, etc.
Gerade Treffen mit Freunden sind derzeit ein heikles Unterfangen. Angenommen, es kommen weitere Einschränkungen: Da stünden wieder viele Menschen vor dem Problem der Isolation. Was würden Sie ihnen raten?
Eigentlich sollten Treffen mit Freunden keine «heiklen Unterfangen» sein, sondern, wenn möglich nicht, oder gut geplant, unter den Covid-19 Richtlinien stattfinden. Doch da scheint unsere Psyche ein Wort mitzureden. Wir «kategorisieren» nach unserem inneren Gutdünken über mehr oder weniger Risiko für ein Treffen mit Personen, machen Zuschreibungen, die wir meinen, rational zu prüfen. Beim genaueren Hinschauen würden wir auf diverse Denkfallen stossen, doch davor schützt uns meistens unser Selbst. Eine Selbstisolation scheint uns nicht so leicht zu fallen. Das Problem der Isolation stellt ein schwieriges Problem dar, vor allem für ältere, alleinstehende Personen, dies auch vor dem Hintergrund der anstehenden Weihnachtszeit. Ich habe dafür keine Lösung, jedoch zeigte sich bereits während des ersten Lockdowns, dass viele Menschen sich für Einkaufsdienste, etc. anerboten hatten. Ich hoffe, diese Dienste werden im Falle weiterer Einschränkungen noch stärker aktiviert. Wobei hier zu berücksichtigen ist, nicht jeder Mensch will Autonomie abgeben und Hilfe annehmen.
Kann die Unsicherheit der aktuellen Zeit auch andere psychische Erkrankungen verschlimmern?
Wie ich es auch bereits erwähnt habe: die Reaktion auf diese Krise kann für psychische Erkrankungen auch heilsam sein. Dies habe ich in den letzten Monaten auch erlebt. Der «Feind» hatte plötzlich ein Gesicht, war ein sichtbarer Gegner. Die PatientInnen konnten etwas dagegen tun, konnten sich an Regeln halten, an Vorgaben orientieren. Aber ja, es gibt viele sich verschlimmernde Verläufe, mehr als heilsame. Diese sind sehr vielseitig und betreffen fast das gesamte Spektrum psychiatrischer Diagnosen.
Wie merkt man, wann es an der Zeit ist, sich Hilfe zu holen?
Es ist fraglich, ob es die betreffende Person selbst merkt. Wenn Sie eine betroffene Person sind und Siesich diese Frage stellen, dann ist es Zeit sich Hilfe zu holen. Häufig merkt jedoch zuerst das nahe Umfeld eine Veränderung bzw. diverse Unstimmigkeiten, zum Beispiel Klagen über unruhigen nicht erholsamen Schlaf, Gereiztheit, Desinteresse, fehlender Humor, etc. Wenn mehrere Unstimmigkeiten zusammenkommen, dann empfehle ich eine Fachperson aufzusuchen. Akute Suizidäusserungen bitte immer ernst nehmen, diese sind ein massiver Hinweis für ein inneres Leid.
Wie könnten mögliche Hilfestellungen für Menschen, die wegen der Corona-Pandemie und ihren Folgen unter Ängsten und anderen psychischen Störungen leiden, aussehen?
Hilfestellungen sind sehr breit gefächert und zielen auf individuelle Bedürfnisse und Symptome ab, daher kann auch hier keine generelle Empfehlung abgegeben werden. Hilfestellungen können Gesprächstherapie, Klinikaufenthalt, Kunst- oder Ergotherapie, Seelsorge, etc. sein. Eine Haltung, die ich vertrete: In der Therapie erarbeitete Interventionen sind dann zielführend, wenn ich als Fachperson die Patienten von der Wirksamkeit überzeugen konnte, so dass sich die Intervention für sie stimmig, plausibel und umsetzbar anfühlt. Nur bei wenigen Personen zeigt sich eine Nachhaltigkeit, wenn ihnen eine Lösung übergestülpt wird.
Wie kriegt man das Thema Corona im Alltag aus dem Kopf? Lässt es sich ausblenden?
Die aktuelle Krise hat uns zu einem grossen Teil das Gefühl der Planbarkeit genommen, dafür sind wir stärker in der Flexibilität gefordert und teilweise überfordert. Doch eines Tages werden wir es überstanden haben. Je mehr wir versuchen, es auszublenden, desto stärker dürfte es den Alltag beeinflussen, zum Beispiel wenn ich Ihnen sage, Sie dürfen an alles denken, nur nicht an einen Elefanten! An was denken Sie dann?
Von Astrid Nakhostin