Marcel Baumgartner
hat per 1. Februar 2025 die Leitung des Swiss Regiomedia AG Standorts in St.Gallen…
Seit sechs Jahren betreibt der Verein «LernEtwas» an der Mariabergstrasse 21 ein regionales Arbeitsintegrationsprojekt. Mit dem handwerklichen Grundkurs «Sprache und Handwerk» in der Lernwerkstatt von «LernEtwas» unterstützt zum Beispiel Toni Ziltener Menschen mit Migrationshintergrund.
Rorschach Früher war Anton «Toni» Ziltener selbst Schreiner, heute nutzt er das Inventar aus seiner Schreinerei um in Werkstattkursen Menschen mit Migrationshintergrund die Grundlagen der handwerklichen Tätigkeiten beizubringen, damit sie selber eine Arbeit finden und sich so eine berufliche Zukunft aufbauen können.
Die Ziele des Kures «Sprache und Handwerk», den Toni Ziltener unter anderem anbietet, sind Teamarbeit fördern, Sprache anwenden im Arbeitsalltag, praxisnahe Aufgaben lösen, Arbeiten in der Werkstatt mit Werkzeugen, Maschinen und Materialien, agiles Arbeiten, Arbeitshaltung (Selbst- und Sozialkompetenzen). Aber im «LernEtwas» an der Mariabergstrasse 21 in Rorschach werden auch Grundkurse in Informatik angeboten, ein mathematischer Aufbaukurs, Sprachkurse wie «Sprache und Handwerk» und vieles mehr. Das Deutschlernen ist dabei Bestandteil aller Angebote zur Förderung der Integration. «Die Werkzeuge sind alle angeschrieben, sodass die Kursteilnehmer im Arbeitsprozess auch gleich den deutschen Begriff dafür lernen», erklärt Toni Ziltener bei einer kurzen Führung durch die Werkstatt. Und in diesem Moment huscht die Rorschacher Stadträtin Ariane Thür-Wenger vorbei. Die ehemalige Lehrerin gibt in der «LernEtwas»-Schule im Zimmer nebenan Deutsch- und Mathematikunterricht.
Im heutigen Kurs «Aus dem Migrationsalltag ins Erwerbsleben» zeigt Toni Ziltener den Kursteilnehmern, wie man einen Holzstuhl herstellt und die notwendigen Werkzeuge bedient. Aufmerksam verfolgen sie, was der 78-Jährige demonstriert, ehe sie es eifrig nachfabrizieren.
Von Claudia Eugster.
Unter den Kursteilnehmer während meines Besuches bei Toni Ziltener im «LernEtwas» am 24. April 2024 ist auch ein junger ukrainischer Flüchtling. Dafür, dass er erst seit zwei Jahren in der Schweiz ist, versteht er gut Deutsch und genug, um einige Fragen zu beantworten:
Valerii war 15 Jahre alt, als die russische Armee seine Heimatstadt Mariupol Mitte Februar 2022 angriff. Ich hake nach, ob er da gewesen sei, wo und während die Aufnahmen
des eindrücklichen Dokumentarfilms «20 Tage Mariupol» entstanden seien. Er nickt. «Nur totes Militär», sagt er tonlos. Um dem Tod zu entrinnen, floh er gemeinsam mit seiner Mutter aus der Stadt. Es müsse etwa am 13. März gewesen sein, aber Valerii ist sich nicht mehr sicher. Kein Wunder, das Zeitgefühl hat er während der Belagerung und des Beschusses der Stadt durch die Russen verloren. «Wir sind gelaufen, zehn oder elf Kilometer», erzählt Valerii weiter. Dann seien sie von russischem Militär angehalten worden. «Sie haben die Taschen durchsucht», so der junge Ukrainer. Auch das Handy. Die verräterischen Telegram-Kanäle hatte der 15-Jährige vorausahnend gelöscht, wie er sagt. Weil sie zur Zivilbevölkerung zählten, liess man sie am Leben und brachte sie in die Stadt Manhusch (ukrainisch: Mangusch), damals noch ukrainisches Gebiet, heute russisch. Seine Mutter suchte Leute, welche Richtung Westen fuhren. Für 1000 Hrywnja (UAH, ukrainische Währung), was etwa 23 Schweizer Franken entspricht, wurden sie in einem Auto nach Saporischschja (noch ukrainisches Territorium obwohl die ukrainische Oblaste Saporischschja seit 30. September 2022 von der Regierung Russlands einseitig als der Russischen Föderation zugehörig proklamiert wird; die Ukraine ist eine autonome Republik und war vor dem russischen Angriff in 24 Gebiete, sogenannte Oblaste, gegliedert) gebracht. Ob sie auf dem Weg von russischem Militär kontrolliert worden seien? Valerii und seine Mutter hatten Glück, nach etwa 20 Stunden trafen sie auf Mitarbeiter des Roten Kreuzes. «Als sie hörten, dass wir aus ursprünglich aus Mariupol kamen, gaben sie uns zu Essen und zu Trinken», erzählt der junge Ukrainer. Zwei Tage seien sie dort in einem Studentenheim untergebracht gewesen, dann nahmen er und seine Mutter einen Zug. Valerii muss nachdenken, um den Fluchtweg zu rekonstruieren: «Wir passierten die Stadt Kolomyia (deutsch: Kolomea)» Das nach zehn Stunden und schliesslich seien sie in Lwiw ausgestiegen. Diese Stadt befindet sich ganz im Westen der Ukraine, an der Grenze zu Polen, aber auch hier ist es nicht sicher, denn auch bis hierhin reichen die russischen Raketen, was die Russische Angriffswelle im Februar 2024 auf weite Teile der Ukraine bewies. «Von Mariupol bis nach Lwiw ist es so weit wie von der Ukraine in die Schweiz», beschreibt Valerii. Die Schweiz war es dann auch, die er und seine Mutter am 6. April 2022 erreichten. In Schaffhausen kamen sie mit einigen weiteren Flüchtlingen über die Grenze. Erst brachte man sie notdürftig in Wil unter, ehe eine Wohnung für sie in einer Gemeinde organisiert werden konnte. Seine Mutter lernt Deutsch, er versteht es bereits gut. Gut genug, um hier eine Lehre zu beginnen, denn ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht absehbar. Ob er sich hier in der Schweiz sicher fühle? Valerii gibt keine deutliche Antwort, nickt kaum merklich. Er ist 17 Jahre alt. Wenn er 18 Jahre alt wird, dann ist er in der Ukraine wehrpflichtig. Ich mache eine kurze Pause.
Wo denn sein Vater sei? «Tot», sagt der junge Ukrainer. Ich schlucke leer, frage, ob er beim russischen Angriff auf Mariupol ums Leben gekommen sei, obwohl er dann ja Teil der Zivilbevölkerung gewesen wäre. Valerii schüttelt den Kopf. «Nein», er stockt, ehe er ergänzt: «Er war im Militär.» Ob er bei dem Angriff auf Mariupol umgekommen sei, hake ich nach. Valerii schüttelt erneut den Kopf: «Schon vorher.» Beim Euromaidan? Valerii schweigt, man merkt ihm äusserlich nicht an, wie schlimm die Erinnerungen sein müssen.
Im Februar 2014 kam es zum Staatsstreich in der Ukraine, bei dem die Opposition die Absetzung des amtierenden Präsidenten Wiktor Janukowytsch erwirkte. Auslöser der Proteste, welche vor zehn Jahren vor allem auf dem Maidanplatz in Kiew statt fanden, war es, dass Präsident Wiktor Janukowytsch am EU-Gipfel, der in Vilnius vom 28. bis 29 November 2013 statt fand das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU, das in mehrjähriger Arbeit unter seinem Vorgänger, Präsident Wiktor Juschtschenko, ausgehandelt worden war, nicht unterzeichnete. Dazu sei erwähnt, dass bei den Wahlen im Jahr 2004, als Juschtschenko an die Macht kam, eigentlich nach der Stichwahl nach dem 1. Wahlgang Janukowytsch mehr Stimmen geholt hatte. Die Opposition unterstellte jedoch einen Wahlbetrug und im Zuge der Orangen Revolution wurde damals im Jahr 2004 eine Wiederholung der Stichwahl erwirkt. Bei dieser Wiederholung erzielte Juschtschenko dann mehr Stimmen als Janukowytsch, weswegen er bis 2010 Präsident der Ukraine war. Die Ukraine und die Europäische Union begannen am 9. September 2008 in Paris mit Verhandlungen über ein weitreichendes Assoziierungsabkommen. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010 blieb der amtierende Präsident Wiktor Juschtschenko mit nur 1'342'000 Stimmen chancenlos und belegte gar nur den fünften Platz. Zum Vergleich: Am meisten Stimmen holte Wiktor Janukowytsch mit 8'687'000 Stimmen, weit abgeschlagen folgte mit 6'160'000 Stimmen Julija Tymoschenko. In der Stichwahl am 7. Februar 2010 holte Wiktor Janukowytsch dann 12'480'335 und Julija Tymoschenko 11'593'202. Auch diese Wahlverliererin kündigte an, das Wahlergebnis wie Juschtschenko im Jahr 2004 anzufechten, doch in Anbetracht des deutlichen Sieges von Janukowytsch, der ja auch 2004 im ersten Wahlgang und in der ersten Stichwahl gewonnen hätte, musste Tymoschenko nach ihrer Anhörung vor dem obersten Verwaltungsgericht einsehen, dass ihre Wahlbeschwerde wohl wenig Erfolg haben würde. Sie zog diese zurück, nicht aber ohne dem Gericht Parteilichkeit vorzuwerfen. So wurde Wiktor Janukowytsch am 25. Februar 2010 als Präsident der Ukraine vereidigt.
Am 22. Februar 2014 stimmte nun aber das Parlament für die Absetzung eben jenes demokratisch gewählten Präsidenten und setzte Neuwahlen für das Amt des Präsidenten für den 25. Mai 2014 an. Dies obwohl noch am Nachmittag des 21. Februar Wiktor Janukowytsch sowie die beiden Oppositionsführer Jazenjuk, Klitschko und Tjahnybok einen Vertrag zur Beilegung der Krise unterschrieben hatten. Diese Vereinbarung hätte den Präsidenten jedoch im Amt belassen. Verschiedener oppositioneller Gruppen forderten aber weiterhin den sofortigen Rücktritt des 2010 demokratisch gewählten Präsidenten. Das Parlament beugte sich mit seinem Beschluss, den Präsidenten abzusetzen also indirekt diesen Forderungen. Die Begründung des Parlaments für die Amtsenthebung war, dass Janukowytsch am Tag nach Unterzeichnung des Abkommen durch seine Flucht aus Kiew dieses einseitig gebrochen habe. Er habe «sich in verfassungswidriger Weise der Ausführung der verfassungsmässigen Befugnisse selbst enthoben habe» und würde «somit seine Pflichten nicht erfüllen». Die Rechtmässigkeit dieses Beschlusses ist fraglich.
Valeriis Geschichte ist eindrücklich und erschütternd, aber bestimmt hätte jeder der Kursteilnehmer Ähnliches zu berichten gehabt.
ce
Von Claudia Eugster.
Interessant an den Vorgängen in der Ukraine im Frühjahr 2014, wie sie im letzten Teil des Beitrages neben diesem Kommentar beschrieben werden, ist, dass Oleksandr Turtschynow am 22. Februar 2014 zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt wurde. Er gehört der Partei Vaterland (heute Volksfront) der unterlegenen Präsidentschaftskandidatin von 2010, Julija Tymoschenko, an. Spiegel Online legte ausserdem zum Entscheid des Parlaments am selben Tag, bei dem die Absetzung des 2010 demokratisch gewählten Präsidenten Wiktor Janukowytsch beschlossen wurde, dar, dass gemäss Artikel 108 der ukrainischen Verfassung die Amtsperiode des Präsidenten lediglich infolge seines Todes, wegen Rücktritts, aus gesundheitlichen Gründen oder «im Zuge eines Amtsenthebungsverfahrens» enden könne, weshalb es sich bei den Ereignissen im Februar 2014 um einen widerrechtlichen Staatsstreich handelt, denn keiner dieser Tatbestände war erfüllt. Im Gegenteil, so erscheint die Begründung für den Entscheid mehr als fadenscheinig. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags wies denn auch in einer Stellungnahme am 5. Januar 2015 sogar darauf hin, dass die Rechtmässigkeit der Absetzung Janukowytschs nicht abschliessend beurteilt werden könne. Trotzdem hatte der Sprecher der Europäischen Kommission am 24. Februar 2014 erklärt, die EU habe die Entscheidung des ukrainischen Parlaments, Präsident Janukowytsch des Amtes zu entheben, anerkannt. Auch erkenne die EU die Übergangsregierung des Landes, bestummen durch den «Maidan-Rat», einen Zusammenschluss der führenden Gruppen der Protestbewegung, als legitim an. Zudem sei die EU grundsätzlich auch weiterhin bereit, mit der Ukraine das Abkommen über Assoziierung und freien Handel zu unterzeichnen. In der Ukraine wurde also rechtswidrig im Zuge von Protesten im Jahr 2014 ein demokratisch durch Wahlen legitimierter Präsident abgesetzt, weil dieser das Assoziationsabkommen mit der EU nicht unterzeichnete. Zu glauben, dass die 12'480'335 Ukrainer, die Wiktor Janukowytsch im Jahr 2010 gewählt hatten, dies einfach stillschweigend akzeptieren würden, war naiv. Der Konflikt im Land schwelte, aber auch Reaktionen anderer Länder folgten. Das traurige Ergebnis durch die Einmischung von aussen ist, dass der gerade einmal 17-jährige ukrainische Flüchtling Valerii – der nichts für all diese Vorgänge kann – in die Schweiz flüchten musste. Immerhin konnte ihm Toni Ziltener im «LernEtwas» eine Perspektive aufzeigen, denn Deutsch versteht er bereits gut und so könnte Valerii hier eine Lehre beginnen. Wenn er nicht, wenn er 18 Jahre alt wird, eingezogen wird um in einem Krieg zu kämpfen, den er weder verhindern konnte, noch den er ausgelöst hat.
Es sind am Ende die Kleinsten die den Preis zahlen für den Machthunger der Politiker im eigenen Land, die doch am Ende aber selbst nur Spielball sind der geopolitischen Machtkämpfe der Grossmächte. Wenn die Diplomatie versagt, so zahlen die Männer im wehrfähigen Alter mit dem Leben, mit lebenslanger Invalidität oder mindestens mit einem Kriegs-Trauma. War es das wert, nur um einen Präsidenten vorzeitig abzusetzen, der demokratisch gewählt war? Zumal im Jahr 2014 sowieso offizielle Neuwahlen stattgefunden hätten. Ein Rechtsstaat kann nur funktionieren, wenn sich alle an die Gesetze halten und demokratische Entscheide akzeptieren. Nur das garantiert Rechtssicherheit und ein friedliches Miteinander. Sonst ist der Bürgerkrieg vorprogrammiert.
Übrigens, Toni Ziltener sucht für sein Engagement im «LernEtwas» einen Nachfolger. Wer Interesse daran hat, der ist aufgerufen, Kontakt aufzunehmen (Telefon: 079 325 25 41, E-Mail: kurse@lernEtwas.ch) zum Kennenlernen.
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